Geschafft! Mühselig öffne ich die Tür und gelange von draußen direkt in die Gaststube des kleinen Hotels. Mich empfangen ein Tisch mit Kaffee, Tee und Kuchen, ein alter mit Nippes übersäter Holzherd, ein knarrender Dielenboden und etwa ein halbes Dutzend gut gelaunter Menschen, die im Halbkreis hinter der Tür stehen und sich angeregt unterhalten. Hey, einen davon kenne ich sogar! „Ernesto! Toll, dich doch noch zu treffen, ich wollte ja eigentlich schon weg sein!“ Ich werde herzlich von allen begrüßt, Claus übergibt mich gleich in Stanis Obhut, weil er ja je… Halt – Moment! Ich glaube, ich sollte von vorne anfangen mit erzählen.
Also, ich bin in einem Hotel, wie du gemerkt hast. Es ist das Hotel Djupavik, das liegt in den Westfjorden. Von den Westfjorden sagt man, sie seien noch abgeschiedener und einsamer als der Rest von Island. Die, die mir das gesagt haben, schwärmten mir im gleichen Atemzug vom Hotel Djupavik vor – mit einem Strahlen in den Augen, sich erinnernd an die seligen Zeiten dort. Davon allerdings erzählten sie mir nur rudimentär. Aber irgendwie schien sie dieser Ort berührt zu haben, auf eine wenig greifbare, fast schon mystische Art und Weise. So empfand ich ihr Verhalten jedenfalls.
Bei gleich mehreren Menschen hatte ich das beobachtet, unter anderem beim oben schon erwähnten Claus, der dort jedes Jahr den Sommer verbringt – arbeitenderweise. Ihn wollte ich dort treffen, um mit seiner Hilfe die Magie dieses Ortes in Worte fassen zu können.
Das mit dem Treffen hat ja nur ansatzweise geklappt, wie ihr schon mitgekriegt habt. „Dann muss ich halt alleine ran“, dachte ich. Aber da war ja noch Stani, habt ihr auch schon mitgekriegt. Und der vertritt Claus echt würdig und nimmt sich meiner sehr vertrauensvoll und offen an. Er zeigt mir meinen Schlafplatz, erzählt mir, was ich wann wie wo essen könne und führt mich in die sonstigen Gepflogenheiten des Hotels ein. Das ist eine schöne Ankunft. Ich fühle mich sofort gut aufgehoben.
So, da bin ich nun. Am Ende einer langen Reise, die mich mit vielen neuen Eindrücken gefüllt hat. Eine Reise, die ich durch das Wetter und die vielen Touristen immer wieder spontan umorganisieren musste. Dementsprechend müde bin ich und froh, zwei Tage Ruhe im Hotel vor mir zu haben. Nichts tun, Zeit und Vorhaben kommen lassen, die Flügel hängen lassen.
Was also tun? Ach, erst einmal einen Rundflug durch den Ort machen. Das dauert selbst bei gemütlichstem Tempo nicht lange, auf dem Foto von Claus siehst du, warum. Ganzjährig leben hier nur zwei Menschen: Eva Sigurbjörnsdóttir und Ásbjörn Þorgilsson. Das Ehepaar betreibt das Hotel, das Herz des Ortes. Ihnen gehört aber auch das alte Herz von Djupavik, wegen dem es diese Siedlung überhaupt gibt: Die alte Heringsfabrik. Die Halle wurde 1934 gebaut und war mit 6000 m² Fläche damals die größte Betonhalle Islands. Sie war mit modernster Technik ausgestattet, wie z. B. einem Fließband, das die Fische von den Schiffen direkt zur Verarbeitungsanlage transportierte. Mehrere 100 Leute lebten hier zur Fischfangsaison. Es wurde Tag und Nacht in Schichten gearbeitet und geschlafen. Die Heringe von Djupavik waren einer der Wirtschaftsmotoren Islands und in weiten Teilen des Landes bekannt. Djupavik kann also auf eine wirklich sehr glorreiche Zeit zurückblicken. Doch es kam, wie es kommen musste: Schon nach 14 Jahren war die Bucht so überfischt, dass kein einziger Hering mehr zu fangen war. 40 Jahre lang verfielen Ort und Fabrik bis Eva und Ásbjörn kamen, das Hotel eröffneten und sich der Halle annahmen. Außer dem Hotel und der Halle der Heringsfabrik gibt es hier noch ein paar kleine Häuser, einen winzigen Strand, einen Hund, einen langen Wasserfall, eine Handvoll Touristen, ein rostendes Schiffswrack und zwei murmelnde Bäche. So viel zu meinem ersten Eindruck vom Ort.
So, und was jetzt? Essen! Richtig, es ist Essenszeit! Also, ab ins Restaurant, einen Platz und ein Gericht ausgesucht. Es gibt gute einfache isländische Hausmannskost. Stani und ich unterhalten uns, ich schaue mich um. So viel gibt es zu entdecken! Ein vollgestopftes Bücherregal, da gibt´s auch Bücher in Deutsch! Und Englisch. Auf dem alten Holzherd steht ein großer Strauß frischer Wiesenblumen. Woher kommen die eigentlich – inmitten der isländischen kargen Vegetation? Am Kuchentisch stehen Kaffee und Tee bereit, den ganzen Tag übrigens und kostenlos. Sehr einladend. Ásbjörn guckt die hiesige Tagesschau. Auf wirklich jedem Sims und Regalbrett steht eine bunte Sammlung an Fundstücken: Teile von Kaffeegedecken, Bilder, ein getrockneter Blumenstrauß, Fischernetzstücke, kleine Puppen, alte Lampen, Muschelschalen, ein Hammer und andere Werkzeuge (die ich nicht kenne), Teekannen, klassischer Reisenippes, alte Bügeleisen, Steine, Weihnachtsschmuck, Vasen, von Wind und Wetter geschliffene Glasscherben, Postkarten, eine Trompete oder so was, Lichterketten, eine Clownsfigur, leere Flaschen, eine Seilwinde… Keine Raben. Woher kommen alle diese ungezählten… ja, Kleinodien? Stani sagt, ganz viele haben die Gäste gefunden und hiergelassen, so nach und nach. Hm, soll ich auch was dalassen? Vielleicht das Wurmskelett vom letzten Picknick auf dem Weg hierher? Mehrere Stunden lang hocke ich auf dem Tisch, schaue mich um und rede immer wieder mit Stani. Immer nur kurz, er muss ja schließlich arbeiten. Schwupp! - ist der Abend vorbei und ich muss dringend schlafen. War schließlich lange unterwegs heute. Vorbei an Ásbjörns und Evas Zimmer und der gemütlichen Sofaecke im Gästeflur flattere ich zu meinem Schlafplatz. Gute Nacht!
Am nächsten Morgen: Frühstück! Gibt´s in der Regel bis halb elf oder auch elf. Ich glaube, das hängt davon ab, wann die Gäste, Eva und Ásbjörn fertig sind. Wie gestern auch strahlt die Sonne vom so gut wie wolkenlosen Himmel. Welche Seltenheit in diesem Land. So tolles Wetter hatte ich die ganze Reise lang nur einen Tag. Öööööh, wie nutze ich das Wetter denn aus? Erst einmal mache ich die gestern besprochene Führung durch die Fischfabrik, zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer deutscher Touristen. Stani führt uns. Ihn selbst hat die Geschichte des Ortes und der Fabrik sehr fasziniert und beeindruckt. Er fiebert quasi mit, spricht immer wieder von „wir“ und „uns“ und meint damit die Leute, die vor über 70 Jahren hier gearbeitet haben.
Ich lasse mich von ihm entführen in den damaligen Trubel und die Geschäftigkeit. Bilder helfen mir. Die hängen mitten in der malerischen Unordnung der Fabrik, zwischen verrosteten Maschinen, kleinen Trümmern, altersschwachen Werkbänken, verschiedenfarbigen Flaschen im Wandregal, verschmutzten Fenstern, Löchern in der Decke oder dem Boden und riesigen Maschinenschlünden, die die Fischmassen schluckten und ihrer Verarbeitung zuführten. Ich bin hin und her gerissen zwischen gebannt zuhören und wie wild fotografieren. Irgendwie schaffe ich es, mich auf beides zu konzentrieren. Zum Glück bin ich ein Rabe und keine dumme Taube. Es ist aber auch ein tolles Licht! Wie es hier so belebend in diese morbide Halle einfällt und einzelne Ecken zum Leuchten bringt! Wie farbig dieser ganze alte Schrott sein kann!
Den Rest des Tages verbringe ich mit meinem Fotoapparat im Ort. Besonders das rostbunte Wrack am Ufer gleich neben der Halle hat es mir angetan. Oh, und da! Noch mehr Rost! Und ein Fisch! Ich kann gar nicht so schnell fotografieren wie ich Motive entdecke. Zum Glück laufen die wenigsten davon. Ich mache gefühlte 5848 Fotos. Fast so viele wie in der Halle drin. Die Stunden vergehen.
Puh, der Fotorausch hat mich erschöpft. Zum Glück gibt´s immer Kaffee, Tee und Kuchen zum Stärken. Mittlerweile ist es prompt Nachmittag geworden. Auf der Bank hinter dem Haus ist es so warm, dass ich sogar zum ersten Mal in Island meine Mütze ausziehen kann und in meinem Flokati sogar ein bisschen schwitze. Stani versorgt mich mit Tee und gehaltvollem isländischem Kuchen und bringt mir sogar alles an dieses traumhafte Plätzchen. Schließlich kann ich nicht alles auf einmal tragen und auch noch fliegen. Kuchen schnabeln, Tee trinken, in die Sonne fläzen, nichts denken, einatmen, ausatmen. Ahhhhh…
Was? Schon wieder Abend? Tatsächlich! Ich verbringe ihn mit Essen, einem Aus-Flug entlang der Straße zur Sonnenuntergangszeit, Unterhaltungen mit Stani und anderen deutschen Touristen, mit denen ich genüsslich in der Sofa-Ecke im Lokal herumlümmele und Tee trinke. Alle reden sie ganz selbstverständlich mit einem kleinen Raben.
Am nächsten Tag lacht immer noch die Sonne vom Himmel. Wolken sind höchstens zu erahnen. Ich kann es kaum fassen. Beim Frühstück überlege ich mir, dass ich einen Spaziergang machen will. Einfach hinter dem Haus bergauf, so weit wie ich es mit meinen kurzen Beinen schaffe. Freya, die Hotelhündin begleitet mich und wir amüsieren uns gut. Leider ist die ganze Gegend ziemlich matschig, so dass ich einmal bis zum Schnabel versinke und mich Freya… - nun ja, be-freyen muss. Ab da fliege ich lieber. Ganz dicht über dem Boden, denn die schwarzweiße Hündin ist nett, ich will weiter mit ihr plauschen. Hach, so ein Aus-Flug ist klasse! Tolle Sicht. Nach den Foto-Touren gestern habe ich mir heute fotofrei genommen. Ich hab´ die Kamera erst gar nicht mitgenommen. Irgendwo oben hocken wir uns gemütlich ins Gras, genießen die Aussicht und gucken den Bauarbeitern beim Verlegen der Leitung mitten durch die Wildnis zu. Schön! Als wir beide genug haben, machen wir uns auf den Rückweg und kommen zur besten Kaffeezeit in Djupavik an. Du ahnst, wie dieser Tag weiterging. Diesmal unterhalte ich mich aber lange und ausführlich mit Stani und auch Eva.
Natürlich reden wir über Djupavik. Schließlich wollte ich ja der Faszination dieses Ortes auf den Grund gehen. Tja, worin besteht sie denn nun? Hmmmm… Ich glaube, es kommen drei Dinge zusammen:
Zum einen ist es ein sehr heimeliger Ort. So wie ich kommen die Gäste nach einem langen, eher beschwerlichen Weg hier an. Sie sind am Ziel, denn an Djupavik kommt man nicht zufällig vorbei und bleibt hängen. Hier ist man willkommen, wird sofort offen und freundlich aufgenommen, egal, wer oder wie man ist. Ziemlich schnell merkt man: Das Lokal ist Evas und Ásbjörns Wohnzimmer und ich gehöre dazu. Genauso verhalte ich mich auch: Zeitweise unterhalte ich mich, dann wird gelesen, manchmal schaue ich mir die Bilder der Tagesschau an, später gucke ich große Löcher in die Luft. Ähnlich offen gehen die beiden mit ihrem Zimmer um: Es ist eines der Gästezimmer mit ihrem Namensschild. Das kann jeder wissen und jeder könnte hineingehen. Überhaupt ist hier kein einziges Zimmer abgeschlossen, glaube ich.
Andererseits ist es ein geradezu kontemplativer Ort. Es ist hier so reizarm (nicht reizLOS!), dass man automatisch anfängt, auf die einfachen und kleinen Dinge zu achten: Fliegen, Rost, Treibholzstücke, lustig geformte Moosbatzen, Wassertropfen… Vor lauter Nichtstuerei fängt man an nachzudenken. Einfach so, über alles Mögliche. Die Gedanken fließen, Ideen kommen und gehen, Gedanken im freien Fall sozusagen. Und weil um einen herum fast nichts passiert, beschäftigt man sich irgendwann auch mit sich selbst, mit seinem Leben, seinem Weg und allem Möglichem, das des Raben Horizont dann doch überschreitet.
Drittens hat Djupavik eine bewegende und allgegenwärtige Geschichte. Das heute so kleine Djupavik war mal richtig berühmt. Im ganzen Land! Dieser Gegensatz beeindruckt die Menschen. Außerdem ist diese Vergangenheit so genau und lebendig mit Fotos dokumentiert, dass sie den heutigen Menschen ganz nahe kommt. Sie reißt Zweibeiner wie Vögel gleichermaßen mit. Und bei der ganzen kontemplativen Nachdenkerei entwickelt sich die Geschichte für den einen oder anderen zu einem Sinnbild. „Zweimal hat an diesem Ort jemand eine Vision gehabt und für ihre Umsetzung kämpfen müssen. Djupavik erinnert mich daran, es selbst auch zu tun. Mich für das einzusetzen, was ich wirklich will. Auch gegen die Meinung der anderen“, hat mir jemand gesagt.
Nach den vielen, sehr intensiven und offenen Gesprächen mit Stani, Claus und Eva und meinem Selbstversuch glaube ich, dass dies die drei wesentlichsten Dinge sind, die Reisende an Djupavik fasziniert. Bei allen Würmern dieser Welt: Vielen, vielen, vielen Dank noch mal an alle drei!
Ich hoffe, ich habe dich, geneigter Leser, mit meinen ausführlichen Beschreibungen nicht gelangweilt. Aber ich brauchte diese Tage und diese drei intensiven Gespräche, um zu begreifen, was hier vor sich geht und ich wollte dir nach besten Kräfte auch die Chance dazu geben. Aber das Beste ist natürlich wie immer: Hinreisen und selbst erfahren!
Infos:
Flauschigsten Dank an Claus Sterneck für das Foto mit dem Überblick vom Hausberg aus!
In Djúpavík war ich im August 2014.