In Wien, da gibt es Läden, die gibt’s gar nicht. Das sind diese Alles-für-das-Nest-Läden. Dort findet ihr echt jegliche Dinge, die ihr Zweibeiner für eure Wohnung brauchen könnt – und manche Reiseraben eben auch für ihr Nest: Farben, Bürsten, Spachtel, Masken, farbige Kontaktlinsen, Scheren, Spruchbänder zum Geburtstag, Stifte, Kochutensilien...
Da flattere ich also in einen solchen Laden rein, will einfach eine Schnur zum Flicken meines Mietnestes kaufen und gelange erst eine Stunde später wieder auf die Straße. Denn zu der Schnur bekomme ich einen ganzen Haufen politischen Austausch, durchdachte Weltverbesserungsideen, viele nachdenklich stimmende Fragen und auch ein ganz kleines bisschen Wahn dazu – völlig kostenlos. Angefangen hat alles mit der erst mal unverfänglichen Frage: „Wie gefällt Ihnen Wien?“ Die nächste Frage ist zwar noch nicht so wahnsinnig kompliziert zu beantworten, aber dennoch ungewöhnlich: „Warum gefällt es Ihnen?“ Doch dann geht es los: „Was sagen Sie denn zur politischen Lage in Europa?“ Wir sprechen über den Umgang mit Flüchtlingen in Europa, Deutschland und Österreich. Über die umweltfreundlichen Vorteile von Bambus als schnellwachsende, anpassungsfähige Pflanze, die viel CO2 speichern und sehr vielseitig genutzt werden kann, u.a. als Baustoff, Textilfaser, Kochutensil. Wir sprechen über rechtsorientierte politische Entwicklungen und überlegen, wie gefährlich sie wohl aktuell sein mögen. Über wirtschaftliche Zusammenbrüche in Vergangenheit und Zukunft sowie über die ungezügelte Gier des Menschen und die Folgen für politische Systeme. Uiuiuiuiui, so ein Rundumschlag! Es ist wie immer: Irdendwann muss man ja doch mal weiter. Und so verabschiede ich mich mit dem Trost, dass ich ja morgen wiederkommen kann. Ich habe den Laden schon für ihre Vielseitigkeit seines Sortimentes geliebt, aber am Ende dieses Gespräches hocke ich kurz auf der Straße, schnaufe tief und denke: „In diesem Laden gibt es wirklich ALLES.“
Ein anderes Mal flattere ich in den urigen Laden von Mike hinein. In seinem Sortiment findet sich alles, was alt ist und wofür ihr Menschen bereit seid, Geld zu bezahlen: 100-jährige Schulbänke, Masken und Figuren aus aller Welt, einzelne oder paarweise Kinosessel, See- und Schrankkoffer in untragbaren Größen, Bücher jeglichen Alters... Als Weltenbummler bleibe ich an einem Buch hängen, das erste Fotos von Saudi-Arabien-Reisenden präsentiert. Ich hocke mich auf einen Tisch, blättere gespannt darin herum und schon bekomme ich wieder eine Geschichte, erzählt von Mike: Eine der Mitwirkenden hat ihm nicht nur dieses Buch zukommen lassen, sondern auch ein anderes. Er zeigt es mir. In diesem Druckwerk sind alte Fotos von Stränden und Straßen Europas abgebildet. Da dieses Buch schon nach Saudi-Arabien gereist ist, wurden penibel alle weiblichen Körperteile, die nach Meinung des saudischen Königshauses eigentlich bedeckt sein müssten, mit Lackstift geschwärzt. Auf jeder Seite. Auf jeder Fotografie. Meschugge, aber im Ergebnis fast Kunst. Mike und ich sinnierten: Wer führt diese Arbeit durch - Männer oder Frauen? Wahrscheinlich Männer, was uns unweigerlich zur nächsten Überlegung führt: Wodurch qualifizieren sich diese Männer wohl für diesen Job?
Eines schönen Nachmittags flattere ich ins Café Vollpension, eine ebenfalls bemerkenswerte Örtlichkeit. Betrieben wird es in erster Linien von Seniorinnen, die hier ihre selbstgebackenen Kuchen servieren. Was für eine hummelstarke Lösung, backwütigen alten Damen Abnehmer für ihre herrlichen Süßwaren zu organisieren! Prompt gibt es Raritäten wie Eierlikör-Topfen-Torte und Müslikuchen. Entgegen üblicher Oma-Cafés ist es nicht in plüschigem Altrosa eingerichtet, sondern in modernem Retro-Stil (sehr widersprüchliche Wortkreation übrigens). Bunte zusammengesuchte Fauteuils stehen um ebensolche Tischchen, die umgebende Räumlichkeit ist eher schlicht, fast industriell, gehalten. Und auch hier im Café Vollpension kriege ich nicht nur eine Melange und einen Kuchen, sondern auch eine kleine Geschichte. Eine der Damen -ein Anstecker weist sie als „Oma vom Dienst“ aus- fragt mich: „Was moachst denn in Wien, mein Kleiner?“ - „Ich reise“, antworte ich stolz. „Ich bin nämlich Reiserabe.“ Ich erzähle, dass ich noch ein paar Tage bleibe und gerne Streifzüge durch die Stadt mache und mich diesmal den Nebenbühnen in den einstelligen Bezirken widme, weil ich das Zentrum ja schon vor ein paar Jahren erlebt habe. „No, do hab´ i doch genau das Richtige für dich“, sagt sie und präsentiert mir ihre Instagramm-Fotos unter dem Motto „Wien zu Fuß“. Sie ist total begeistert von Instagramm und legt mir dieses soziale Medium innigst ans Herz. Das wäre genau richtig für mich, damit würde ich groß und berühmt werden.
Ich finde, auf diese Weise gebe ich in Wien zwar einen Haufen Geld aus, aber irgendwie werde ich auch richtig reich dabei. Weil ich so viele Geschichten geschenkt bekomme.
Infos:
In Wien war ich im Juni und August 2011 sowie im Oktober 2019. Dieser Text ist von 2019.