Kleiner Brauner, großer Schwarzer, Einspänner, Fiaker, Melange, Pharisäer…. Ich hocke auf dem Tisch eines original Wiener Kaffeehauses und studiere die Getränkekarte. Es ist echt ein Studium, wenn auch eines ohne zertifizierten Abschluss. Obwohl – vielleicht besteht die Zertifizierung in dem Kaffeegetränk, das ich nach meiner Bestellung bekomme. Je mehr es meiner Vorstellung entspricht, desto besser ist die Note. Die Wiener Kaffeekultur ist unübersichtlich, zumindest für Besucher. Was sich für fremde Ohren anhört wie Rote-Liste-Tierchen auf einer Blumenwiese sind alles echte Wiener Kaffeespezialitäten.
Was hatte ich zu Hause Vokabeln gepaukt! Abende lang saß ich mit dem Reiseführer da und lernte seitenweise Kaffeespezialitäten auswendig, um möglichst treffsicher das zu bestellen, was einem großen Milchkaffee am nächsten kommt. Kaffeespezialitäten heben sich in Wien manchmal nur in Details voneinander ab. Da mögen sich zwei Kreationen nur durch Schlagobers (= Sahne) oder Milchschaum unterscheiden - die entsprechenden Namen haben jedoch nichts miteinander zu tun. Es schien mir ein bisschen wie das Fachchinesisch von Kaffeesüchtigen, eine eigene Sprache, wo selbst die Betonung einer Endsilbe ein anderes Getränk darstellen kann.
Trotzdem fühlte ich mich einigermaßen gerüstet, als ich auf der Terrasse des Kunsthallencafés im Resselpark ankam. Also versuchte ich der geduldigen Bedienung wortreich zu erklären, dass ich hätte gerne diese Kaffeespezialität hätte, die in diesen großen Tassen serviert würde, dessen Namen ich als Tourist jetzt natürlich nicht korrekt wüsste, welches aber vielleicht irgendwo zwischen (sehr) Großem Braunen und Wiener Melange einzuordnen sei. Die nette Dame schaute sich um, schaute mich an und sagte: „Ah, äinen Milchkaffee, möchtens haben, no, den bring i ihn´ do schnöll!“ Milchkaffee? Milchkaffee????? Im Lande der Melangen, Braunen (ob klein oder groß, egal) und lauter anderen Was-weiß-ichs, heißt das Ding einfach Milchkaffee?
Da war die ganze Lernerei umsonst gewesen! Aber ich war doch etwas erleichtert, denn schließlich schien sich die Kaffeebestellerei doch enorm zu vereinfachen. Beim nächsten Kaffeehausbesuch schaute ich verwegen gar nicht erst in die Getränkekarte, sondern bestellte gleich einen Milchkaffee. Die Bedienung schaute mich fragend an: "Meinens äinen Café Latte oder woas?" Café Latte – das ist doch italienisch! Gute Güte, da schlägt doch glatt ein Stück Globalisierung im alten Wiener Herz! Aber einfacher wird die Kaffeebestellung dadurch nicht. Hier italienische, dort eingedeutschte französische Kultur. Und natürlich die traditionellen einheimischen Namen. Das macht die Benennung der Kaffeespezialitäten in Wien nun wirklich nicht einfacher.
Und tatsächlich: Cappuccino, Milchkaffee, großer Schwarzer, die Bezeichungen gehen bunt durcheinander. Von Café zu Café, aber auch innerhalb der gleichen Getränkekarte. Es gibt keine Muster, keine Regelmäßigkeiten, ich wurde jedes Mal überrascht. Mittlerweile hat sich hier sogar der durch und durch italienische Latte Macchiato bekannt gemacht. Die Welt der Kaffeespezialitäten in Wien ist im Umbruch. Wir dürfen gespannt sein.
Infos:
Wikipedia zu unter anderem auch österreichischen Kaffeespezialitäten
Dir gefällt das Fenstercafé? Es ist am Fleischmarkt.
In Wien war ich im Juni und August 2011 sowie im Oktober 2019. Diese Reportage ist von 2019.