Immer mit der Ruhe

Kaffeehaus

 

Ahhhh, sitzen und die Flügel hängen lassen, das tut gut, wenn man mehrere Stunden durch den 1. Bezirk von Wien geflattert und gehopst ist, vorbei an der Hofburg, dem Rathaus und dem Stephansdom. Genau das hatte ich getan und nun brauchte ich unbedingt eine Pause. Also steuerte ich das nächstgelegene Kaffeehaus an. Es war das Café Central. So hocke ich noch nicht lange auf meinem Tischchen, hatte gerade meine Melange und den Apfelstrudel bekommen, als es sintflutartig zu regnen anfängt. Folglich bildet sich innerhalb kürzester Zeit an der Eingangstür eine Schlange von Leuten in unterschiedlichem Nässezustand, die alle einen Platz im trockenen Kaffeehaus begehren. Doch der geschmeidige Ober lässt sich scheinbar von keinem Andrang der Welt aus seiner Kaffeehausruhe bringen. Nonchalant nimmt er im Vorbeigehen das Schild aus der Ecke, das die Menschen höflich, aber bestimmt auffordert: „Bitte warten Sie, bis Sie platziert werden.“ Und damit ist der Fall erledigt. Kein Anflug von Hektik oder Stress. So hocke ich vor meinem Kaffeerest und dem mittlerweile leeren Teller, bin glücklich darüber, dass ich einer der letzten Gäste war, der sich ohne Wartezeit einen Platz sichern konnte und werde – gelassen. Die Wiener Kaffeehausruhe nimmt ihren Gast auf.

 

 

Im Vilimek (Landstraßer Hauptstr., 3. Bezirk) kann man bei schönem Wetter auch draußen sitzen.
Im Vilimek (Landstraßer Hauptstr., 3. Bezirk) kann man bei schönem Wetter auch draußen sitzen.

 

 

Ich frage mich: Woher kommt das? Warum werde ich, wann immer ich mich in einem Kaffeehaus niederlasse, innerlich so ruhig? Es sind die Menschen hier. Sie strahlen Ruhe aus, Gelassenheit. Sie sitzen so entspannt hier wie auf ihrem eigenen Sofa. Sie sind sie selbst. Gleichzeitig nehmen sie jeden anderen so an, wie er ist. Selbst wenn er einen schwarzen Flokatipelz trägt und sich auf den Tisch hockt. Sie geben mir das Gefühl, dazu zu gehören. Und somit umweht mich hier im Kaffeehaus eine soziale Wärme und mit ihr kommt die Gelassenheit. Und im Umschauen bemerkte ich, wie tief die Leute von dieser inneren Ruhe befallen sind: Zwei Männer sitzen beisammen und reden entspannt miteinander, einer liest Zeitung, eine Frau sitzt einfach nur da und schaut sich das Treiben an. Am Nebentisch unterhalten sich zwei Mütter und schaukeln dabei geruhsam ihre Kinderwagen samt schlafendem Baby. Ein älteres Ehepaar sitzt an einem großen Tisch und wartet langmütig auf den später eintreffenden Rest der Familie. Die Kaffeehausruhe nimmt wirklich alle ihre Gäste auf.

 

 

Auch das Cafe Zartl in der Rasumofskygasse (3. Bezirk) ist so ein althergebrachtes Kaffeehaus mit typischem Wiener Charme.
Auch das Cafe Zartl in der Rasumofskygasse (3. Bezirk) ist so ein althergebrachtes Kaffeehaus mit typischem Wiener Charme.

 

 

In meinen Gleichmut fange ich das Sinnieren an: Das Wiener Kaffeehaus ist ein althergebrachtes Stück Zuhause. Die Kaffeehausheimat war schon immer da. Früher tummelten sich arme Dichter und Denker in der wohligen Wärme, um ihre Gedankenergüsse auszutauschen, die Welt zu verbessern und sich dabei kulinarisch versorgen zu lassen. Das war natürlich viel bequemer, als allein in der klammen ungeheizten Stube zu sitzen, die sich einbildete, ihr Lebensmittelpunkt zu sein. Heute ist das Kaffeehaus die Heimat für nostalgisch veranlagte Single-Wiener. Bei denen macht sich die Kälte in der Wohnung eher in Form von Einsamkeit breit. Auch traditionsbewussten Familien und Freunden bietet es Raum für ein angenehmes Gespräch. Selbst der vorübergehend heimatlose nostalgische Tourist findet im Kaffeehaus eine wohltuende Heimeligkeit, einen Hauch von Zuhause, ein bisschen Heimat.

 

 

Das Café Menta am Radetzkyplatz (3. Bezirk)
Das Café Menta am Radetzkyplatz (3. Bezirk)

 

 

Übrigens: Auch der modern veranlagte Homo urbanus macht nichts anderes. Klar geht er nicht ins klassische Kaffeehaus. Die Lokalitäten nennen sich Café, Bar oder Bistro, aber im Endeffekt passiert dort nichts anderes. Bestes Beispiel ist das „Café Menta“ am Radetzkyplatz (3. Bezirk). Hier hocke ich oft bei meinem zweiten Besuch in Wien anno 2019 – zusammen mit jungen Familien, anderen Reisenden, Padzeichnern, Laptop-Tippern, feiernden Freunden und Hausarbeit schreibenden Studierenden. An der Wand hängen keine schwarz-weißen Fotografien aus alten Zeiten, sondern ein großes zweigeteiltes Bild, das von Weitem wie aus abstrakten Fotos gemacht wirkt, sich aber von Nahem als gesprüht herausstellt. Aber die Stimmung ist die gleiche. Man fühlt sich hier zu Hause, man ist gelassen, ruhig und entspannt.

 

 

 

 

Das Gefühl des Besuchers, in seiner guten Stube zu sein, das entsteht durch die Ruhe und Gelassenheit, die das Kaffeehaus ausstrahlt, völlig egal, ob es alt oder modern ist. Denn so gelassen und ruhig ist man sonst nur zu Hause, in seinem Nest.

 

 


Infos:

 

Links:

Kaffeehäuser bei Wikipedia - Was sagt das Lexikon zu Kaffehäuser?

Das Wiener Kaffeehaus - einschließlich einiger Kaffeehausbesprechungen

Liste einiger Kaffeehäuser

 

Literatur:

Christopher Wurmdobler (2005): Kaffeehäuser in Wien: Ein Führer durch eine Wiener Institution. Klassiker, moderne Cafés, Konditoreien, Coffeeshops

Rick Rodgers (2003): Das Kaffeehaus. 120 klassische Rezepte & Geschichten aus Wien, Budapest und Prag

Kurt-Jürgen Heering, Hrsg. (1993): Das Wiener Kaffeehaus: Mit Hinweisen auf Wiener Kaffeehäuser

 

In Wien war ich im Juni und August 2011 sowie im Oktober 2019. Diese Reportage hat Inhalte von 2011 und 2019.