Ich hopse durch Kalbe, die Kleinstadt in der Altmark. Sie hat eine tolle Bausubstanz im Ortskern, aber in einigen Teilen verfällt sie ganz leider ganz schön. Ich mag ja Lost Places. Zwar ist es in Kalbe noch nicht so weit, aber bröckelnden Putz, schiefe Fensterläden und abplatzende Farbe gibt es hier schon. Und genau das gucke ich mir gerade genauer an. Doch was ist das?
Sowas Buntes mittendrin! Und scheinbar vor nicht allzu langer Zeit herausgeputzt. Vorsichtig linse ich durch die Toröffung. Im Hof flattern Dreiecksfähnchen, in loser Ordnung lümmeln ein paar Tische und Stühle herum, auf der Bierzeltgarnitur vor der Hauswand sitzen eine Handvoll junger (!) Leute, knabbern und reden. Eine Frau winkt mir zu. Ich flattere in den Hof.
Sie sprechen Englisch miteinander. Eine Frau hat fernöstliche Gesichtszüge, ein Mann sieht eher mediterran aus. Was für eine ungewöhnliche Gesellschaft für diesen Ort! Prompt werde ich neugierig und hopse zu ihnen auf ein Tischende. Sie lachen und legen mir vorsichtig ein bisschen von ihrem Knabberzeug vor die Füße. Ich schnappe es auf, räuspere mich und sage leise: „Hallo.“ Also kommen wir ins Gespräch und ich staune nicht schlecht: Sie sind Kunststudierende aus aller Herren Länder! Wie zum Kuckuck verschlägt es sie ausgerechnet in das kleine Kalbe und dann auch so viele auf einmal!
„Schuld“ daran die Frau aus diesem Haus. Sie heißt Corinna Köbele und sie hat die jungen Menschen hierher eingeladen zum Sommercampus der „Künstlerstadt Kalbe“. Sie bleiben für ein paar Sommerwochen, bekommen ein Atelier und ein Zimmer und brauchen sich in dieser Zeit um nichts anderes zu kümmern als um ihr Kunstprojekt, mit dem sie sich für dieses Stipendium beworben haben.
„Du kommst genau richtig, Ernesto!“ sagen sie. „Jedes Wochenende machen wir einen öffentlichen Atelierrundgang und zeigen, was wir in den letzten Tagen gemacht haben. Dieses Wochenende ist der Sommercampus zu Ende und deshalb kannst du beim Rundgang unsere fertigen Projekte sehen, wenn du magst. Und heute abend ist Lichterblütenfest.“ Lichterblütenfest! Atelierrundgang! Klar will ich das sehen!
Aber erst will ich wissen, was es denn mit dieser Künstlerstadt auf sich hat. Offiziell ist die Künstlerstadt ein Verein, dessen Hauptschlagader Corinna Köbele ist. Mit ganz viel Herzblut und Motivation organisieren sie viele Aktionen, die mittels Kunst und Kultur Menschen in das Städtchen locken und zusammenbringen sollen. Corinna erzählt mir vom Bänkefest, von Musikfestivals, Kunstworkshops, Ausstellungen, Theatertagen... Es geht um Kunst und Kultur auf allen Ebenen und Niveaus: von internationalen Kunststudierenden bis hin zu regionalen Hobbykünstlern und natürlich ebenso vielschichtig interessierten Besuchern sind alle willkommen.
Allein das klingt schon nach sehr zeitintensivem Engagement. Aber hinter der Künstlerstadt steckt sooooooooo viel mehr! Für all diese Veranstaltungen braucht es Räumlichkeiten. Diese gibt es in Kalbe zuhauf, aber zumeist in Form von leerstehenden, in unterschiedlichem Maße maroden Gebäuden. Bevor also eine Musikfestivalreihe organisiert werden kann, muss ein Gebäude saniert werden. Bekanntermaßen haben Vereine kein Geld, so auch die Künstlerstadt. Bevor also ein Gebäude saniert werden kann, müssen staatliche Fördergelder und Genehmigungen beschafft werden. Da Fördergelder grundsätzlich nicht allzu üppig bemessen sind, wird die Sanierung nach Möglichkeit von den Vereinsmitgliedern und deren Helfern selbst durchgeführt. Es werden Wände herausgerissen, Türzargen gesetzt, Böden verlegt... Die Vision der Künstlerstadt ist nichts Geringeres als die Wiederbelebung des Ortes.
Die Präsenz und Akzeptanz in der Einwohnerschaft Kalbes ist gemischt. Manche interessieren sich dafür, manche dagegen kennen das Projekt kaum.
„Lichterblütenfest? Das ist heute, ich weiß. Ich gehe lieber zum Dorffest in...“ (den Namen des Ortes hat mein kleines Rabenhirn leider vergessen). Am Abend zeigt sich ein ähnliches Bild: Einige haben ihr Haus oder ihren Garten äußerst liebevoll, prächtig oder phantasiebegabt beleuchtet. Andere Anwesen sind stockfinster.
Als ich mich nach diesem ereignisreichen Tag zum Ausruhen in eine hübsch beleuchtete Ecke des Städtchens hocke, ziehe ich eine erste Bilanz. Je intensiver ich mich mit der Künstlerstadt genähert habe, desto beeindruckter bin ich. Von Corinnas Begeisterung, von der Einsatzbereitschaft ihrer Mitstreitenden, von der Größe der Vision. Auf jeden Fall drücke ich alle meine Fußkrallen für ein Gelingen dieser wirklich großen Idee von Corinna.
Infos:
In Kalbe war ich im Juli 2022 und im Juli 2024. Dieser Bericht entstand anno 2022.