Eine Zeitreise par excellence

Dinkelsbühl

 

"Hocke ich nicht doch auf der Schulter einer Hexe?" Überall mittelalterliche Häuser, funzliges Straßenlicht, Kopfsteinpflaster. Ich hopse eine schmale Gasse im abendlichen Dinkelsbühl entlang. Den ganzen Tag habe ich mich dort schon aufgehalten und bin unfassbar beeindruckt. Dieser Ort ist eine echte Zeitreise - so sehr, dass ich im Halbdunkel fliegende Händler, Gaukler in ledernen Schnabelschuhen und eben Hexen um mich herum wähne. Ich höre quasi das Pferdegetrappel und das Scheppern der Kessel, rieche die Küchenfeuer und den Mist. Die Inszenierung ist perfekt.

 

 

 

 

Auch am Tag, wenn man genauer hingucken kann, sieht Dinkelsbühl so mittelalterlich aus wie keine andere Stadt Deutschlands. Das liegt an den Details. Egal, an welchem Punkt der Altstadt du dich befindest: Du siehst kein einziges Gebäude, das auch nur ansatzweise modern anmutet. Jede Kleinigkeit an den Fassaden sieht nach mittelalterlichen Baustoffen aus: Holzfensterrahmen und Butzenscheiben, alte Laternen und Wasserspeier, steinerne Portale und gestufte Hausgiebel. Konsequent sind alle Schriftzüge angepasst, mag der Laden noch so modern sein.

 

 

 

 

Dinkelsbühl ist riesig. Den ganzen Tag bin ich durch die Gassen gestreift und habe immer wieder neue Winkel und Details entdeckt. Ich denke an die kleinen schnuckeligen Altstädtchen im übrigen Deutschland – aus heutiger Sicht sind es eher Altdörfer. Dinkelsbühl ist anders. Dinkelsbühl ist eine Stadt. Nicht nur wegen ihrer (relativen) Weitläufigkeit, sondern auch wegen ihrer imposanten Gebäude. Sie erzählen von quirliger Geschäftigkeit, geschickten Kaufleuten und strotzendem Eifer. Diese Stadt muss beeindruckend reich gewesen sein.

 

 

 

 

Dieses bemerkenswerte Bündel entdecke ich im Schaufenster eines dieser Gebäude. Geht jetzt die Zeitreise selbst mit den Waren weiter? Oder habe ich schon Zeitreisenhalluzinationen? Das muss ich mir genauer angucken, also flattere ich in den Laden hinein.

 

 

 

 

Hinter dem Tresen steht ein überaus sympatisches altes Ehepaar, das aber ebenso aus der Zeit gefallen scheint wie der Laden. Sie sind beide um die 80 Jahre und führen den Laden in der 3. Generation. Irgendwie gehören sie hierher. Wir kommen ins Gespräch. Das gesamte Mobiliar ist noch original. Viele alte Waren haben sie noch. Ich entdecke ein orange Heft mit der altertümlichen Aufschrift "Fremdenbuch". Weiter hinten im Schuber steckt ein "Waren-Ausgangsbuch" im gleichen Design. Feinsäuberliche Tabellen sind darin, um handschriftlich die Geschäftsvorgänge zu dokumentieren. Sie haben auch noch einen stattlichen Vorrat an Stahlfedern, die heute wohl nur noch von Künstlern verwendet werden. Auf dem Tresen entdecke ich einen nostalgischen Tesabandabroller. Ich kann nicht widerstehen: Ich kaufe dieses "Fremdenbuch". Das hat es mir einfach angetan. Die alte Dame packt es für mich in ihre vorletzte Plastiktüte. Es ist tatsächlich die vorletzte, denn ein Drama nimmt seinen Lauf.

 

 

 

 

"Die Plastiktüten hat der Vertreter immer mitgebracht, wenn er für die Bestellungen kam. Aber der kommt nicht mehr." Die Bestellungen seien nur noch online möglich. Überhaupt funktioniere die ganze Kommunikation mit Geschäftspartnern und Vertretern ausschließlich digital. Die beiden Herrschaften kommunizieren nur mit einem Festnetztelefon. Nichtzuletzt stieg die Miete zu sehr. Der neuen Ära schauen sie mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie hat etwas Angst vor aufkommender Langeweile. Er kommentiert: "Da kommt schon etwas Neues." Ich jedenfalls wünsche den beiden von meinem ganzen Rabenherzen einen schönen Ruhestand.

 

 

 

 

Die beiden verabschieden sich vom Arbeitsleben, ich verabschiede mich von ihnen und bald muss ich mich auch von Dinkelsbühl verabschieden. Ich rüste mich innerlich für die Neuzeit, sehe eine letzte Hexe um die Ecke huschen und fliege los. An Dinkelsbühl werde ich noch lange zurückdenken und beeindruckt sein.

 

 


Infos:

Was übrigens die Zeitreise durchaus stört, ist der völlig unbeschränkte Autoverkehr.

Mehr Infos über das schöne Dinkelsbühl findest du hier.

 

In Franken war ich im September 2019.